Die größte Minderheit der Welt und warum du sehr wahrscheinlich einmal ein Teil von ihr sein wirst

Innerhalb der menschlichen Vielfalt - sexuelle Vorlieben, Geschlecht, Hautfarbe, religiöse Überzeugungen, ethnische Zugehörigkeit... - ist die Behinderung diejenige, gegenüber der wir am meisten voreingenommen und vorurteilsbeladen sind.

Foto eines Aufklebers auf einer grünen Wand, der bereits halb abgerissen ist und auf dem steht: "Change is coming - whether you like it or not" (Veränderung wird kommen, ob du nun willst, oder nicht.)

Die Auseinandersetzung mit dem Thema "Behinderung" konfrontiert uns mit unserer Verletzlichkeit.

Tatsache ist, dass nach Angaben der WHO etwa 15 % der Weltbevölkerung (eine Milliarde Menschen) mit einer Art von Behinderung leben. Damit ist diese Gruppe die größte "Minderheit" der Welt.

In einer der umfangreichsten Studien über die Einstellung zu Behinderungen wurde gezeigt, dass wir, je älter wir werden, mehr negative implizite Einstellungen gegenüber Behinderungen haben, d. h. abwertende Gedanken, die wir nicht äußern, aber gleichzeitig werden unsere expliziten Einstellungen positiver, wir äußern öffentlich, dass Menschen mit Behinderungen ein aktiver Teil der Gesellschaft sein sollten.

Und diese Doppelmoral, das Wissen, dass unsere inneren negativen Einstellungen gesellschaftlich inakzeptabel sind und in einem Diskurs nicht offen geäußert werden können, wird jede Diskussion und jede Studie zu diesem Thema verzerren und uns daran hindern, es tiefgründig zu erforschen.

Dabei ist die Realität, dass man selbst nur einen Schritt von einer Behinderung entfernt ist, ob man es will oder nicht.

Heutzutage treten 80 % der Behinderungen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren auf - also mitten im produktiven Alter.

Unfälle und Krankheiten sind die Hauptursachen für Behinderungen. Aber es gibt noch zwei weitere Faktoren, die weiter zunehmen und denen wir alle ausgesetzt sind: die Überalterung der Bevölkerung und die Zunahme chronischer Krankheiten.

Schätzungen zufolge wird die Bevölkerung über 60 Jahre bis zum Jahr 2030 um 56 % zunehmen, und im Jahr 2050 wird diese Weltbevölkerung etwas mehr als zwei Milliarden Menschen umfassen. Derzeit leben bereits 45 % der über 60-Jährigen mit einer Form von Behinderung.

Was die chronischen Krankheiten betrifft, möchte ich zwei Beispiele anführen. Nach Angaben des Nationalen Krebsinstituts der USA werden schätzungsweise 39,5 % der Menschen in den USA irgendwann in ihrem Leben mit Krebs diagnostiziert. Fragen Sie Menschen, die mit Krebs leben oder ihn überlebt haben, wie die Krankheit sie behindert hat.

Diabetes ist ein weiterer Vertreter der weltweiten chronischen Behinderungen. In Mexiko beispielsweise, ist die Sehbehinderung im Jahr 2020 eine der am weitesten verbreiteten Behinderungen, und eine Ursache dafür ist Diabetes.

In Zeiten der Pandemie kommt Covid-19 als Ursache für Behinderungen hinzu. Laut einer im Lancet veröffentlichten Studie gibt es ein Phänomen, das als "long covid" bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um Folgeerscheinungen, unter denen die Patienten auch noch Wochen und Monate nach der Ansteckung mit Covid-19 noch leiden. Selbst nach 7 Monaten berichten Betroffene noch über Symptome wie Gedächtnisprobleme, Konzentrationsschwierigkeiten, extreme Müdigkeit u. a., die sie so sehr behindert haben, dass viele von ihnen nicht in der Lage waren, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren, oder eine reduzierte Arbeitszeit beantragt haben.

Aber es gibt noch andere Faktoren, die zu Behinderungen führen können, zum Beispiel die Umweltverschmutzung. Es gibt Hinweise auf eine höhere Häufigkeit von geistigen Behinderungen an Orten mit höherer Luftverschmutzung.

In Gebieten, in denen soziale Gewalt herrscht, wie im Nahen Osten, in Mittelamerika und an vielen anderen Orten, gibt es Fälle, in denen Menschen aufgrund von Landminen, Schießereien, Explosionen usw. eine Behinderung erleiden.

Ein letzter Faktor, den ich erwähnen möchte, ist die Automatisierung der Arbeit. Man muss nicht warten, bis man eine körperliche, sensorische oder geistige Fähigkeit aufgrund einer Krankheit oder eines Unfalls verliert, um die Bedeutungslosigkeit zu erfahren. Wenn eine Maschine oder ein Roboter deine Arbeit rund um die Uhr erledigt, ohne Beschwerden, ohne Bezahlung und ohne Urlaub, dann ist das für deinen Arbeitgeber das Paradies und für dich der Fall in die Bedeutungslosigkeit. Du würdest aufhören, für dein Unternehmen nützlich zu sein, und wenn du nicht bald einen Platz auf dem Arbeitsmarkt findest, könntest du die Erfahrung machen, die ein Mensch mit einer Behinderung macht, indem er wegen seines offensichtlichen Mangels an Nützlichkeit in der produktiven Gesellschaft ausgeschlossen wird.

Behinderung sollte im Zentrum unserer ethischen Bedenken als Spezies stehen.

Ich empfehle, nicht vor dem Thema „Behinderung“ wegzulaufen und nicht weiterhin mit zweierlei Maß zu messen, indem wir die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen nach Außen hin unterstützen, aber in unserer innersten Gedanken weiterhin diskriminieren.

Denn du bist nur einen Schritt davon entfernt, selbst eine Behinderung zu erfahren. Wenn du heute ausgrenzt, schaffst du die perfekten Voraussetzungen für die Ausgrenzung deines zukünftigen Ichs.

Von José "Pepe" Macías

 

(Alle verlinkten Texte liegen leider nur in englischer Sprache vor.)