Inklusion beginnt mit Geduld

Geduld ist der Samen, aus dem barrierefreie und inklusive Umgebungen erwachsen.

Das sagt Haben Girma, Harvards erste Absolventin mit Hör- und Sehverlust, in einem Webinar, an dem ich teilgenommen habe.

Foto: Blick üevr die Schulter eines Mannes m Anzug, der auf seine Armbanduhr schaut.

Als Studentin, sagt sie, hatte die Cafeteria keine Speisekarten in Braille-Schrift, daher wusste sie nicht, was sie essen könnte. Als sie den Manager fragte, ob er eine Speisekarte in Braille zur Verfügung stellen könnte, antwortete er: „Wir haben so viel zu tun, da können wir nicht auch noch auf so spezielle Bedürfnisse eingehen und eine Speisekarte in Braille schreiben.“

Aber wie sie zu Recht betonte, ist Essen kein besonderes Bedürfnis. Es ist eines, dass wir alle teilen.

Das gleich könnte über Arbeit gesagt werden. Arbeit ist kein spezielles Bedürfnis, Arbeit verleiht allen Menschen Würde.

Aber eine Arbeitsmodel von kontinuierlicher Verbesserung und des Mehrwertes hat in uns eine Ungeduld geschürt, eine ständige Wachsamkeit, die sich kaum abschalten lässt. Sie hat bereits unser gesamtes Leben durchdrungen; tagtäglich wird die Gesellschaft individualistischer, konkurrierender und schneller; die perfekte Grundlage für Exklusion und Barrieren sowohl im Arbeits- wie auch im sozialen Leben.

Der Zeitmangel und der Druck sind eine gute Entschuldigung für einen Mangel an Empathie und Inklusion. Die Angst, dass wir eine Zielsetzung nicht erreichen, lässt uns keinen geistigen Freiraum, um auf die Menschen um uns herum Rücksicht zu nehmen.

In der Vergangenheit habe ich gesagt, dass obwohl ich in Mexiko lebe - welches ein Land mit einer eher unzugänglichen Infrastruktur ist - und blind bin, die sehr unterstützende und soziale Mentalität der Mexikaner mir sehr hilft. Aber das ändert sich gerade. Die Menschen laufen über die Straße, mit ihrem Mobiltelefon beschäftigt, in Gedanken vertieft und vom Zeitdruck vorangetrieben.

Ich bin damit aufgewachsen von Mexikaner zu hören, wie höflich die Menschen in Deutschland sind, von dem respektvollen Umgang miteinander auf den Straßen und in den Zügen. Und ich erinnre meinen ersten Besuch in Hamburg, als mich ein Kollege auf dem Weg vom Hotel zum Büro begleitete. Wir nahmen die U-Bahn. Als sich die Zugtüren öffneten wollte ich direkt in den Zug einsteigen, aber mein Kollege hielt mich zurück und sagte: „Ich weiß, du kannst es nicht sehen, aber es wollen Leute aussteigen. Wenn sich die Türen öffnen, warte einen Moment und steige dann erst ein.“

Mein Verhalten war nicht davon gesteuert, dass ich nicht sehen konnte, sondern von der erlernten Unhöflichkeit aus meinem Umfeld. Allerdings erzählte mir eine sehbehinderte Freundin kürzlich, dass sich dies, besonders spürbar nach der Pandemie, gerade ändert. Sie berichtete von Situationen, in denen sich Menschen z.B. in Zügen ihr gegenüber sehr ungeduldig bis aggressiv verhielten, weil sie aufgrund ihrer Sehbehinderung teilweise langsamer lief.

Digitale Interaktionen sind ein anderes gutes Beispiel. Vor einigen Woche moderierte ich einen Online-Workshop für ein multinationales Unternehmen, bei dem alle Moderatoren wie auch der Workshopleiter sehbehindert waren. Als Break-Out Gruppen gebildet werden sollten, brauchte der Workshopleiter etwas, bis die Räume organisiert waren, es dauerte 2,5 Minuten, ich habe es gestoppt.

Am Ende des Workshops war das Feedback einer Teilnehmerin, dass wir mit vorbereiteten Break-Out-Räumen in die Workshops gehen sollten, da nach ihrem Empfinden 15 Minuten verloren worden waren, bis diese standen.

Das war auf der einen Seite ein Kommentar, der eine völlige Empathielosigkeit zeigte, wenn man bedenkt, dass der Workshopleiter mit einer Sehbehinderung lebt und es für ihn eben etwas umständlicher ist die technischen Einstellungen vorzunehmen als für eine sehende Person. Auf der anderen Seite zeigt es auch, wie sehr Druck unsere Wahrnehmung beeinflusst, so dass aus 2,5 Minuten gefühlte 15 Minuten werden.

Inklusion erfordert Empathie, die uns ermöglicht, die Welt der Anderen zu verstehen und ein unterstützendes Verhalten zu entwickeln. Barrierefreiheit erfordert Empathie, die uns ermöglicht die Realität der Anderen zu verstehen und uns Räume gestalten lässt, die die Teilhabe aller ermöglicht.

Geduld ist der Samen: eine klare und offene Geisteshaltung, die nicht nur mich selbst berücksichtigt, sondern viele Menschen, und in der ausreichend Zeit und Ressourcen vorhanden sind, um das Leben aller würdig zu gestalten.